10 Jahre Kulturinfarkt – was wurde draus?

2012 haben Dieter Haselbach, Armin Klein, Pius Knüsel und Stephan Opitz das Buch „Der Kulturinfarkt” veröffentlicht. Und heute? Ist fast alles so wie es war. Nur dass die Kultureinrichtungen mehr Geld denn je erhalten. 

Der Titel „Kulturinfarkt” war schon 2012 unpassend gewählt, zumal den Autoren klar war, dass die Theater-, Museen- und Orchesterlandschaft nicht – wie bei einem Infarkt – plötzlich sterben würde. Im Buch selbst wird denn auch weniger von einem Infarkt, als vielmehr von einer „finanziellen Erosion” (S. 63) und von einem „Tod durch Aufzehrung” (ebd.) gesprochen. „Kultursiechtum” oder ein positiver Titel wie „Die kulturpolitische Revolution” wären deutlich treffender gewesen. 

Finanziell blüht die Kulturlandschaft

Wie sich die Kulturförderung seit Erscheinen des Buchs entwickelt hat? Schaut man sich die Kulturausgaben an, kann von Einsparungen keine Rede sein. Da der Kulturfinanzbericht nicht jedes Jahr erscheint, kann man zwar nicht 2011 mit 2021, sondern nur 2010 mit 2020 miteinander vergleichen, doch das gibt sich nichts. Fest steht: Binnen zehn Jahren sind die Kulturfördermittel von 9,4 auf 14,5 Milliarden Euro gestiegen. Das ist eine Erhöhung des Kulturetats von sagenhaften 54 Prozent (inflationsbereinigt 35 Prozent). Die Gefahr eines „Kulturinfarkts” oder einer „finanziellen Erosion” scheint nicht nur meilenweit, sondern Lichtjahre entfernt. Da es 2020 Corona-bedingte Sondermittel gab, ist es zwar möglich, dass die Förderung in den kommenden Jahren leicht zurückgehen wird, geringer als 2019 wird sie aber sicherlich nicht ausfallen. Und hier lagen die Kulturausgaben bei stattlichen 12,6 Milliarden Euro. Auch das immerhin noch eine Steigerung um 35 Prozent im Vergleich zu 2010. Von einem „Kaputtsparen” der Kultur kann also keine Rede sein.

Kulturförderung erfolgt weiterhin nach Gießkannenprinzip

Das Buch „Kulturinfarkt” ist weitgehend prognosefrei, weshalb man nicht sagen kann, wo die Autoren richtig und wo sie falsch lagen. Vielmehr ist es gespickt mit zahlreichen Ideen, wie sich die Kulturpolitik ihrer Meinung nach ändern sollte. Dabei handelt es sich jedoch meist weniger um handfeste Forderungen als vielmehr um Diskussionsansätze. So heißt es denn schon im Vorwort: „Wir entwickeln keine kompakte Vision.” (S. 13)

Dennoch gibt es sie aber, die konkreten Vorschläge. Schon 2012 heftig umstritten waren die „Fünf Gründe für die Halbierung der Infrastruktur” (S. 209 ff.). Die Idee der Autoren war es, den Kulturetat in seiner Höhe zu erhalten, aber umzuverteilen, um „die Vergangenheitsorientierung” der Kulturpolitik loszuwerden. Da die kulturellen Leuchttürme schon damals die größten Empfänger der Fördermittel waren (und bestehen bleiben sollten), gingen die Autoren davon aus, dass man mit der Halbierung nur zwei der (damals) neun Milliarden Euro Kulturförderung freisetzen und für andere Zwecke verwenden könnte. Es wurde vorgeschlagen, diesen Betrag zu fünfteln und folgendermaßen auszugeben:

  • ein Fünftel für die Erhöhung des Etats für die überlebende Infrastruktur,
  • ein Fünftel für die Laienkultur,
  • ein Fünftel für die Förderung der „noch nicht existenten Kulturindustrie, welche nationale, europäische und globale Ambitionen vereint” (z.B. Computerspiele und andere digitale Produkte),
  • ein Fünftel für die Kunsthochschulen, die zu „Produktionszentren” ausgebaut werden sollten sowie
  • ein Fünftel für die „gegenwartsbezogene kulturelle Bildung: eine Bildung, die uns türkische Kunst, amerikanische Kulturindustrie oder chinesischen Nationalismus näherbringt”.

Da die Kulturinfrastruktur – welch Überraschung! – nicht halbiert wurde, wurden auch keine zwei Milliarden freigesetzt, so dass die Fördermittel im Jahr 2022 kaum anders verteilt werden als 2012. Kleine Veränderungen gibt es natürlich. So wird beispielsweise die Games-Branche seit 2019 jährlich mit 50 Millionen Euro gefördert. Grundsätzlich hat sich in den letzten zehn Jahren nichts verändert. Die Theater- und Orchesterlandschaft ist so geblieben wie sie ist und die Anzahl an Museen ist auf 7.120 Museen angewachsen. Es scheint auch kaum jemand ein Interesse daran zu haben, an dieser Förderkultur etwas zu ändern. Und wo kein Veränderungswille oder gar ein Veränderungsdruck besteht, verändert sich auch nichts. Den Grund dafür kannten auch schon die Autoren: „Der notwendige Rückbau und die Diskussion der Frage, wie öffentliche Kulturförderung nachhaltig bewerkstelligt werden könnte, sind nicht sexy. (…) Wo es ans Eingemachte geht, handelt man sich nur Ärger und neue Feinde ein.” (S. 57)

Corona als Brennglas für den Besucherschwund?

Selbstredend haben die Corona-Beschränkungen zu massiven Besucherverlusten geführt. Bei den Museen kamen 2020 etwa 70 Prozent weniger Besucher, bei den Theatern waren es in der Spielzeit 2020/2021 rund 86 Prozent weniger Zuschauer – alles andere wäre auch verblüffend gewesen. Ein deutlich größeres Problem ist, dass die Auslastung auch nach Aufhebung der Beschränkungen deutlich geringer war. So verlauteten etwa das Thalia in Hamburg und das Staatstheater Hannover, dass sie nicht an das Vorpandemie-Niveau anknüpfen konnten. Doch was sind die Gründe dafür? Die Neue Musikzeitung liefert einige: 

  • Angst vor Corona-Ansteckung,
  • anderes Planungsverhalten, 
  • andere Prioritäten, 
  • neue Gewohnheiten, 
  • finanzielle Gründe, 
  • Siegeszug des Heimkinos, 
  • Fixierung auf Stars und, last but not least, 
  • keine Lust auf Belehrung. 

Sicherlich werden 2023 viele Kultureinrichtungen sich und ihre Besucherzahlen feiern, denn trotz der genannten Gründe wird sich wohl eine kräftige Erholung einstellen, zumal mit Nachholeffekten zu rechnen ist („endlich kann man wieder…”). Doch werden die Vor-Corona-Zahlen wieder erreicht? Und wenn ja, kann man diese als so gut bezeichnen, dass kein kulturpolitischer Handlungsbedarf herrscht? Die Buchautoren hätten hierzu wahrscheinlich eine klare Meinung und die würde „nein” lauten. 

Spiegelt die Kulturpolitik die gesellschaftliche Diversität wieder?

„Das amerikanische System ist Europa in der Frage der sozialen Diversität weit voraus”, so die Autoren (S. 234). Mittlerweile ist Diversität in all ihren Ausprägungen ein Riesenthema im Kulturbetrieb und wird finanziell stark gefördert, doch genau so, wie es die Autoren bereits 2012 kritisierten: „In Europa ist der Staat zuständig, ihn aber leiten, was die Kultur angeht, die Experten einer europäischen Hochkultur, in die zwar Fremdes einfließt, aber nur als Fremdes, während es in den USA als gleichwertig daherkommt” (S. 235). Natürlich gab und gibt es türkische Kulturvereine, chinesische Tanzgruppen und afrikanische Kulturfestivals, doch ihre finanziellen Ressourcen sind, verglichen mit den Summen, die „klassische” Kultureinrichtungen erhalten, gering. In der Folge sind die Strukturen der „Migrantenkultur” schwach. Die Autoren plädieren aber nicht, wie man annehmen könnte, für mehr oder größere staatlich geförderte interkulturelle Zentren, sondern setzen auf kulturwirtschaftliche Anreize und Verknappung: „Die Angebotsinflation im geförderten Sektor muss beendet werden, im Interesse der Kunst selbst.” (S. 232)

Strukturell hat sich die Kulturförderung nicht geändert

Im Buch wird an zig Stellen und auf unterschiedliche Weise der deutsche Strukturkonservativismus kritisiert. Doch damit standen die Autoren schon 2012 ziemlich alleine da. Entsprechend dürfte sich die Verwunderung darüber, dass sich in den letzten zehn Jahren wenig bis nichts geändert hat, in Grenzen halten. Wer soll denn den Mut und die Macht haben, die Kulturinfrastrutur zu halbieren? Oder auch nur ein Zehntel der Kultureinrichtungen zu schließen? Es gibt viel zu viele Profiteure der bestehenden Kulturförderung und die meisten Leute waren und sind mit der hiesigen Kulturlandschaft zufrieden. Oder regen sich zumindest nicht darüber auf. Es gibt schlichtweg keinen Diskurs über Kulturpolitik. Diesen wollten die Autoren anstoßen, doch mehr als ein Strohfeuer konnten sie nicht entfachen. Und dass sich das ändert, ist nicht absehbar.

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